top of page

EP44: Mutter werden - Wenn das Glücksgefühl ausbleibt

Autorenbild: Maxi PeschMaxi Pesch


Die Gesellschaft vermittelt uns das Bild, dass das Mutterwerden ein Moment puren Glücks und der Erfüllung ist. Ein Mythos, der sich durch Werbung, Bücher und selbst Alltagsgespräche zieht: Eine Frau, die ihr neugeborenes Kind im Arm hält, erfüllt von Liebe, Glück und Stolz. Doch was passiert, wenn diese Gefühle ausbleiben? Wenn eine Frau sich überfordert, einsam oder sogar entfremdet von ihrem eigenen Kind fühlt?


Dieses Thema ist nach wie vor ein Tabu. Viele Frauen trauen sich nicht, offen darüber zu sprechen – aus Angst, als schlechte Mutter abgestempelt zu werden. Die gesellschaftliche Erwartung ist klar: Mutter zu werden ist etwas Natürliches, etwas, das automatisch Freude bringen sollte. Und doch gibt es Frauen, die sich in diesem neuen Lebensabschnitt verloren fühlen.


Um diese Realität zu verstehen, sprechen wir in diesem Interview mit Marie-Jeanne Schon, Familientherapeutin, die seit vielen Jahren mit Müttern und Familien arbeitet. Sie weiß, wie schwer es ist, sich diese Gefühle einzugestehen – und wie wichtig es ist, darüber zu sprechen.

Zwischen Hormonen und gesellschaftlichem Druck


Eine neue Mutter erlebt nicht nur eine emotionale, sondern auch eine hormonelle Achterbahnfahrt. Der sogenannte "Babyblues" – eine kurze, melancholische Phase nach der Geburt – ist relativ häufig. Doch manchmal geht es über diese Phase hinaus. Eine postnatale Depression kann lange anhalten und die Beziehung zwischen Mutter und Kind belasten.


Marie-Jeanne Schon erklärt:"In dem Moment, in dem eine Frau merkt, dass sie schwanger ist, eröffnen sich ganz neue Perspektiven. Das bringt enorme Veränderungen mit sich – sei es beruflich, in der Partnerschaft oder innerhalb der Familie. Die Vorstellung, dass Mutterwerden automatisch Glück bedeutet, ist daher eine große Vereinfachung."


Für viele Frauen ist das Gefühl nach der Geburt nicht die erwartete Euphorie, sondern eher Druck, Unsicherheit oder sogar eine Distanz zum eigenen Kind.

"Ich habe Frauen getroffen, die sagten: 'Jetzt ist das Baby da, aber ich spüre dieses Glück nicht.' Oder: 'Ich kümmere mich um mein Kind, aber irgendwie erfüllt es mich nicht.' Das kann hormonell bedingt sein, aber auch mit der Geburtserfahrung zusammenhängen – besonders nach einem schweren Geburtsverlauf oder einem Kaiserschnitt."


Dazu kommt oft der gut gemeinte Satz aus dem Umfeld: "Hauptsache, dein Kind ist gesund." Doch für betroffene Frauen kann das eine zusätzliche Belastung sein.

"Wenn es einer Mutter schlecht geht, dann macht die Tatsache, dass ihr Baby gesund ist, nicht automatisch, dass sie sich auch gut fühlt. Das Gefühl von 'Ich MUSS glücklich sein' kann den Druck noch verstärken."


Das Problem der Einsamkeit


Früher wurden junge Mütter oft von Großmüttern, Tanten oder anderen Familienmitgliedern in ihrer neuen Rolle begleitet. Heute ist das kaum noch der Fall. Frauen müssen schnell wieder „funktionieren“ – bereit für die Arbeit, das soziale Leben, den Partner. Die emotionale und mentale Belastung wird kaum thematisiert.


"Wir sehen, dass junge Mütter heute weniger Unterstützung bekommen als früher. In anderen Kulturen ist es nach wie vor üblich, dass eine Frau nach der Geburt von ihrer Familie umsorgt wird. Hier in Luxemburg stehen viele Frauen jedoch allein da – und das kann zu einer enormen psychischen Belastung führen."


Besonders während der Covid-Pandemie hat sich gezeigt, wie isoliert viele Frauen mit ihren Babys waren – ohne Besuche, ohne konkrete Unterstützung.

"Frauen kommen noch heute in die Therapie und sagen: 'Meine erste Geburt war während der Pandemie, ich hoffe, dass es diesmal ganz anders wird.' Das zeigt, wie tief diese Erfahrungen sitzen."


Wenn die Bindung nicht sofort entsteht


Das Bild der unmittelbaren emotionalen Verbindung zwischen Mutter und Kind ist ein weiteres Ideal, das nicht immer der Realität entspricht. Für manche Frauen ist diese Bindung ein Prozess, der Zeit braucht.


"Es gibt Frauen, die sich nach der Geburt nicht sofort mit ihrem Baby verbunden fühlen – besonders wenn die Geburt traumatisch war oder sie sich allein gelassen fühlen. Aber auch das ist nicht ungewöhnlich."


Dieses Erleben kann das Verhalten des Babys beeinflussen.


"Es gibt Babys, die viel weinen, weil sie spüren, dass etwas nicht stimmt. Andere ziehen sich zurück und schlafen mehr als gewöhnlich. In der Praxis sehen wir oft, dass die Emotionen der Mutter sich direkt auf das Baby übertragen."


Wir brauchen mehr Offenheit und Aufklärung


Die Lösung für dieses Problem ist nicht einfach, aber ein wichtiger Schritt ist es, offener darüber zu sprechen.


"Mutter sein ist nicht nur eine Hollywood-Version von perfekt eingerichteten Babyzimmern und strahlenden Frauen. Es ist ein Prozess, eine tiefgreifende Veränderung – mit Höhen und Tiefen. Es ist wichtig, auch diese andere Seite nicht zu verschweigen."


Eine Gesellschaft, die das Mutterwerden in all seinen Facetten versteht, kann bessere Unterstützung bieten. Ein großer Schritt wäre, die Erwartung zu ändern, dass jede Frau von der ersten Sekunde an "glücklich" sein muss.


"Die beste Prävention ist Aufklärung: Frauen zu sagen, dass es normal ist, wenn man nicht sofort so empfindet, wie man es vielleicht erwartet hat. Und vor allem: Sie müssen wissen, wo sie Hilfe bekommen, wenn es ihnen nicht gut geht."


Die Realität ist, dass viele Frauen diese Erfahrung machen, ohne dass darüber gesprochen wird. Doch gerade durch Offenheit kann die Stigmatisierung gebrochen werden – und das wäre bereits ein wichtiger Schritt in Richtung Veränderung.


 
 
 

Comments

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating
bottom of page