„Das Gehirn von kleinen Kindern ist wie weiche Knete: unglaublich formbar, aber auch sehr verletzlich.“ Mit diesem Bild brachte Dr. Denise Reding Jones, Expertin für Gehirnentwicklung und funktionelle Medizin, ein zentrales Thema im Podcast 1000Deeg auf den Punkt. Das Gespräch zeigte, wie entscheidend die ersten 1000 Tage im Leben eines Kindes für seine neurologische und psychosoziale Entwicklung sind.
Dr. Denise Reding Jones ist eine lizenzierte Psychologin und Psychotherapeutin in Luxemburg, spezialisiert auf Trauma- und Entwicklungspsychologie. Mit einem Doktorat in Beratungspsychologie und Zertifizierungen in EMDR und Traumatologie behandelt sie ein breites Spektrum psychischer Störungen und spricht vier Sprachen.
Wann beginnt die Gehirnentwicklung?
Die Entwicklung des Gehirns beginnt bereits in der sechsten Schwangerschaftswoche, wenn die ersten Grundlagen des Gehirns im Embryo angelegt werden. Die Entwicklung verläuft von hinten nach vorne: vom Hirnstamm, der die Körperfunktionen steuert, über den emotionalen Bereich bis hin zum logisch-linearen Teil. Dr. Denise Reding Jones betont, dass bereits in dieser frühen Phase die Umgebung und der Stresslevel der Mutter einen großen Einfluss haben: „Das Stresshormon Cortisol kann die Plazenta passieren und schon sehr früh Schäden im Gehirn verursachen, insbesondere im Hippocampus und im präfrontalen Kortex.“
Die Rolle der Schwangerschaft und der Bindung
Die Gehirnentwicklung wird während der Schwangerschaft nicht nur durch die Ernährung und Gesundheit der Mutter beeinflusst, sondern auch durch die emotionale Verbindung zwischen Mutter und Kind. Wenn die Mutter mit ihrem Kind spricht oder seine Bewegungen spürt, wird die Grundlage für eine erste Bindung gelegt. Auch der Partner kann hierbei eine wichtige Rolle spielen, indem er sich aktiv an diesem Prozess beteiligt.
Die Bedeutung der ersten Monate und Jahre
Nach der Geburt entwickelt sich das Gehirn mit erstaunlicher Geschwindigkeit: Bis zum Alter von drei Jahren sind nahezu alle Gehirnzellen miteinander verbunden. „Die ersten drei Jahre sind entscheidend, denn ein Kind lernt in seiner frühen Kindheit mehr als in jeder anderen Lebensphase“, erklärt Dr. Reding Jones. Eine stabile emotionale Bindung ist dabei entscheidend: „Der menschliche Kontakt, Blickkontakt und die Bindung durch die Eltern sorgen dafür, dass das Gehirn am schnellsten wächst – kein Spielzeug oder technisches Gerät kann das ersetzen.“
Stress als Barriere fürs Lernen
Stress ist eine der größten Hürden für das Lernen. „Ein Kind, das gestresst ist, kann nicht lernen“, betont Dr. Reding Jones. Der Grund: In Stresssituationen schaltet das Gehirn Bereiche ab, die für Konzentration und Lernen wichtig sind, und fokussiert sich ausschließlich auf das Überleben. Besonders bei Kindern, die unsicher gebunden sind oder durch emotionale Unsicherheit belastet werden, ist dieser Mechanismus häufig aktiv.
Krippen und Bindung: Ein sensibles Thema
In unserer Gesellschaft ist es üblich, dass Kinder bereits mit sechs oder neun Monaten in die Krippe gehen. Dies fällt oft in eine Phase, in der viele Kinder eine intensive Trennungsangst erleben. Dr. Reding Jones erklärt, dass der Kontakt mit vielen verschiedenen Personen in den ersten Lebensjahren für Kinder überfordernd sein kann. „Studien haben gezeigt, dass das Stresshormon Cortisol bei Kindern, die in die Krippe gehen, abends höher ist als bei Kindern, die zu Hause betreut werden. Das kann das Sicherheitsgefühl und die Bindung beeinflussen.“
Sie betont jedoch, dass Krippen nicht automatisch schädlich sind, sondern dass es wichtig ist, die Anzahl der Betreuungspersonen so gering wie möglich zu halten und für Kontinuität zu sorgen.
Eine neue Perspektive auf Kinder und Bindung
Das Gespräch zeigte, wie fundamental eine gesunde Bindung für die Entwicklung eines Kindes ist. „Zwei Elternteile mit einem gesunden Kind sind oft überfordert, weil das Kind so viel wissen und entdecken will, dass es ein ganzes Netzwerk an Menschen braucht, um seine Bedürfnisse zu erfüllen“, erklärt Dr. Reding Jones. Kinder, deren emotionale Bedürfnisse erfüllt sind, sind neugieriger und wissbegieriger – eine Energie, die für Erwachsene fordernd sein kann, aber auch ein starkes Zeichen für eine gesunde Entwicklung ist.
Dr. Reding Jones hat ein komplexes, aber essenzielles Thema mit viel Einfühlungsvermögen und Fachwissen vermittelt. Die Frage, wie wir als Gesellschaft mit den Bedürfnissen von Kindern und ihren Eltern während der kritischen ersten 1000 Tage umgehen, bleibt offen. Klar ist jedoch, dass das Gehirn der Kleinsten so formbar wie sensibel ist – und dass wir als Gesellschaft eine Verantwortung haben, die wichtigsten Jahre ihres Lebens mit viel Sorgfalt zu begleiten.
5 Key points:
Frühe Gehirnentwicklung: Bereits in der 6. Schwangerschaftswoche beginnt die Gehirnentwicklung – sie ist empfindlich gegenüber Stress und Umwelteinflüssen.
Bedeutung der Bindung: Sichere Bindungen fördern die gesunde Entwicklung des Gehirns und die Fähigkeit zu lernen.
Stress blockiert Lernen: Chronischer Stress hemmt zentrale Gehirnareale und behindert Konzentration sowie Fortschritt.
Frühbetreuung und Sicherheit: Kontakt mit vielen Betreuungspersonen kann bei kleinen Kindern zu erhöhtem Stress führen und die Bindung beeinträchtigen.
Neugierige Kinder: Erfüllte emotionale Bedürfnisse stärken die Aktivität und Neugier – eine positive, aber auch fordernde Energie.
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